Wolf oder Wohlstand, Teil 1 - Marcel Züger "Mensch Wolf"

Der Text „Wolf oder Wohlstand“ von Marcel Züger bietet eine historisierende, stark wertende Darstellung der Wolfsverfolgung in Europa und argumentiert letztlich gegen die Koexistenz von Mensch und Wolf – zumindest in den Alpen – mit Verweis auf Geschichte, Kultur und Ökonomie. Eine kritische Analyse zeigt jedoch, dass viele Argumente in dem Text einseitig, verzerrt, wissenschaftlich überholt oder schlicht falsch sind. Hier sind zentrale Punkte, die wissenschaftlich widerlegt oder relativiert werden können – jeweils mit entsprechenden Quellen.

🔍 1. Mythos: „Wölfe und Wohlstand schließen einander aus“

Widerlegung:

Diese Dichotomie ist künstlich. Zahlreiche Regionen in Europa vereinen heute funktionierenden Herdenschutz, wachsende Wolfspopulationen und hohen Lebensstandard – z. B. Norditalien, Südfrankreich oder Teile Deutschlands.

  • Studien zeigen, dass konfliktarme Koexistenz möglich ist, wenn geeignete Schutzmaßnahmen etabliert werden. Dazu gehören Herdenschutzhunde, Elektrozäune und Entschädigungsregelungen.

  • Wirtschaftlicher Schaden durch Wölfe liegt in Deutschland bspw. im einstelligen Millionenbereich, während die landwirtschaftliche Gesamtproduktion bei über 20 Milliarden Euro jährlich liegt (vgl. DBBW 2023).

🧠 Fazit: Die Existenz von Wölfen bedroht keinen gesellschaftlichen Wohlstand.

🔍 2. Mythos: „In den Alpen hat es nie Koexistenz mit Wölfen gegeben“

Widerlegung:

Die historische Koexistenz ist nachweislich dokumentiert, z. B. in Südfrankreich, Norditalien, Spanien, Portugal und dem Balkan. Viele dieser Regionen haben seit Jahrhunderten traditionelle Formen des Herdenschutzes – z. B. Maremmano-, Pyrenäen- oder Sarplaninac-Hirtenhunde.

  • Selbst im Alpenraum gab es Phasen friedlicher Koexistenz. Die systematische Verfolgung begann nicht aus Notwendigkeit, sondern wurde oft durch politische und religiöse Narrative motiviert (vgl. Boitani 2003).

  • Zahlreiche Studien betonen, dass die Zerstörung des Lebensraumes und gezielte Ausrottungspolitik, nicht Konflikte mit der Landwirtschaft, primäre Gründe für das Verschwinden des Wolfs waren (Chapron et al. 2014, Science).

🔍 3. Mythos: „Wölfe wurden europaweit vernichtet, weil sie eine echte Bedrohung waren“

Widerlegung:

Die historischen Wolfsjagden waren häufig symbolisch, Ausdruck von Macht und Ordnung. Auch religiöse und kulturelle Dämonisierung spielte eine große Rolle. Die tatsächlichen Schäden durch Wölfe waren meist überschaubar.

  • Historische Studien zeigen, dass nur wenige dokumentierte Wolfsangriffe auf Menschen in Europa existieren – viele davon in Tollwut-Zeiten (Linnell et al. 2002).

  • Die „Wolfsplagen“ etwa in Frankreich oder im Balkan wurden oft in übertriebenen Zahlen dargestellt – es fehlen konsistente Aufzeichnungen, häufig beruhen sie auf Angstnarrativen, nicht auf überprüfbaren Daten.

🔍 4. Mythos: „Wiederansiedlungen wurden durch Aussetzung von Wölfen forciert“

Widerlegung:

Für keine Region Mitteleuropas gibt es Beweise für künstliche Aussetzungen freilebender Wölfe.

  • Die Rückkehr der Wölfe ist rein natürlich und durch genetische Analysen umfassend dokumentiert. In Deutschland z. B. stammen alle freilebenden Wölfe von Tieren ab, die selbstständig aus Polen eingewandert sind (Harms et al. 2015).

  • Auch in der Schweiz sind die Linien genetisch eindeutig auf die italienische und baltische Population zurückzuführen (vgl. KORA, Schweiz).

🔍 5. Mythos: „Herdenschutz war in Mitteleuropa nie üblich“

Widerlegung:

Das stimmt nicht. Es gibt zahlreiche Hinweise auf regionalen Herdenschutz, auch im Alpenraum.

  • Der massive Rückgang von Prädatoren war ein Grund, warum Herdenschutzmaßnahmen im 20. Jahrhundert aus der Praxis verschwanden, nicht umgekehrt.

  • Studien zeigen, dass Herdenschutzsysteme heute in fast allen Regionen Europas erfolgreich (wieder) eingesetzt werden – z. B. in Österreich durch das Projekt Herdenschutz Österreich.

🔍 6. Mythos: „Wölfe gefährden die Artenvielfalt“

Widerlegung:

Im Gegenteil: Der Wolf ist ein wichtiger Regulator im Ökosystem und fördert biodiverse, stabile Lebensgemeinschaften.

  • Der „Trophic Cascade“-Effekt ist in Yellowstone, aber auch in Europa dokumentiert: Wölfe regulieren Wildtierpopulationen, fördern die Waldverjüngung und steigern die Artenvielfalt (Ripple & Beschta 2012).

  • In der Schweiz zeigt sich: Durch die Präsenz von Wölfen ändert sich das Verhalten von Rehen und Hirschen, was langfristig die Waldstruktur und Artenvielfalt verbessert (vgl. KORA).

🔍 7. Mythos: „Wölfe vermehren sich unkontrolliert“

Widerlegung:

Wölfe haben eine stabile Populationsdynamik. Das Wachstum ist selbstregulierend durch territoriale Grenzen und Sozialverhalten.

  • Ein Wolfsrudel besteht meist aus nur 5–10 Tieren. Nur das Leitpaar vermehrt sich. In Mitteleuropa kommen kaum über 50 Rudel gleichzeitig pro Land zusammen – auch bei wachsender Population (DBBW).

  • In der Schweiz gab es 2023 z. B. 32 bestätigte Rudel. Jäger und Bauern stellen sich das Wachstum oft schlimmer vor, als es ist – aber die Daten sprechen eine andere Sprache.

🔍 8. Mythos: „Ohne Wolfsjagd kein Gleichgewicht“

Widerlegung:

Der Wolf ist ein natürlicher Prädator, der sich nicht wie invasive Arten vermehrt, sondern in komplexe ökologische Zusammenhänge eingebettet ist.

  • Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Wölfe vor allem kranke oder schwache Tiere jagen, was Wildbestände gesund hält (Mech & Peterson 2003).

  • Die Jagd auf Wölfe hat kaum langfristigen Effekt auf Konflikte. Studien zeigen, dass selektive Entnahmen weniger erfolgreich sind als Prävention (Santiago-Avila et al. 2018).

🧾 Fazit und Bewertung des Ausgangstexts:

Der Text „Wolf oder Wohlstand“ von Marcel Züger zeichnet ein eindimensionales, historisierendes und teils polemisches Bild des Wolfs in Europa. Dabei vermischt er Tatsachen, Spekulationen und Ideologie, um eine These zu stützen: Der Wolf sei mit der modernen Zivilisation nicht vereinbar.

Dies ist falsch.

Wissenschaftlich gesehen ist der Wolf ein wichtiges Glied im Ökosystem, seine Rückkehr ist ein Erfolg für den Artenschutz, und Koexistenz ist möglich und sinnvoll – sowohl ökologisch als auch ökonomisch.

📚 Wissenschaftliche Quellen:

  • Chapron, G. et al. (2014). Recovery of large carnivores in Europe’s modern human-dominated landscapes. Science. DOI: 10.1126/science.1257553

  • Boitani, L. (2003). Wolf conservation and recovery in Europe: an overview. In Wolves: Behavior, Ecology, and Conservation.

  • Linnell, J.D.C. et al. (2002). The Fear of Wolves: A Review of Wolf Attacks on Humans. NINA Report.

  • Harms, V. et al. (2015). Genetische Herkunft der Wölfe in Deutschland. Bundesamt für Naturschutz.

  • Ripple, W. J., & Beschta, R. L. (2012). Trophic cascades in Yellowstone: The first 15 years after wolf reintroduction. Biological Conservation.

  • Santiago-Avila, F. J. et al. (2018). Killing wolves to prevent predation on livestock may protect one farm but harm neighbors. PLoS ONE.