Der von Marcel Züger vorgelegte Text argumentiert, dass der Wolf keine Schlüsselart sei, insbesondere mit Blick auf den Yellowstone-Nationalpark, und warnt vor einem "romantisierenden Naturverständnis". Obwohl einige Punkte zur Vorsicht im ökologischen Denken berechtigt sind, sind zentrale Behauptungen des Textes wissenschaftlich unzutreffend, verkürzt oder einseitig dargestellt. Im Folgenden erfolgt eine Analyse mit wissenschaftlich belegten Gegendarstellungen.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Ein Kausalzusammenhang zwischen Wölfen und Landschaftsveränderungen [in Yellowstone] ist nicht erkennbar.“
Wissenschaftlicher Widerspruch:
Diese Behauptung widerspricht zahlreichen empirisch belegten Studien zur Trophischen Kaskade nach der Rückkehr des Wolfs in den Yellowstone-Park.
🔬 Belege:
Ripple & Beschta (2004, 2012, 2016) zeigten, dass die Wiedereinführung der Wölfe zu einem Rückgang der Wapithipopulation führte, was eine Regeneration von Weiden, Espen und Weidenbüschen entlang der Flüsse ermöglichte.
Dies hatte weitreichende Auswirkungen auf die Biodiversität, u.a. auf Singvögel, Biber, Kleinsäuger und sogar die geomorphologische Struktur von Flussufern.
📚 Quelle: Ripple, W. J., & Beschta, R. L. (2004). Wolves and the Ecology of Fear: Can Predation Risk Structure Ecosystems? BioScience, 54(8), 755–766. Ripple, W. J., & Beschta, R. L. (2012). Trophic cascades in Yellowstone: The first 15 years after wolf reintroduction. Biological Conservation, 145(1), 205–213.
✅ Fazit: Die trophische Kaskade durch Wölfe ist eine gut dokumentierte, kausal belegte Entwicklung – auch wenn sie nicht exklusiv durch Wölfe verursacht wurde.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Der Wolf gehört nicht dazu [zu den Schlüsselarten].“
Wissenschaftlicher Widerspruch:
Die Definition einer Schlüsselart (keystone species) ist, dass sie disproportional zur Häufigkeit große Auswirkungen auf das Ökosystem hat. Genau das ist beim Wolf im Yellowstone der Fall – er beeinflusst Beutetierverhalten, Vegetation, Biodiversität und sogar hydrologische Prozesse.
🔬 Belege:
Der Wolf veränderte das Verhalten von Huftieren (z.B. Elche), was das Pflanzenwachstum und damit die Struktur ganzer Lebensräume beeinflusste.
Studien dokumentieren sekundäre Effekte auf Biber, Fischpopulationen, Amphibien, Singvögel und Kleinsäuger.
📚 Quelle: Estes, J. A., et al. (2011). Trophic downgrading of planet Earth. Science, 333(6040), 301–306. Beschta, R. L., & Ripple, W. J. (2016). Riparian vegetation recovery in Yellowstone: the first two decades after wolf reintroduction. Biological Conservation, 198, 93–103.
✅ Fazit: Der Wolf erfüllt nach der gängigen Definition in der Ökologie die Kriterien einer Schlüsselart – zumindest in bestimmten Ökosystemen wie Yellowstone.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Wölfe sind keine Schlüsselarten, da sie für die Anwesenheit vieler anderer Arten nicht unerlässlich sind.“
Einordnung:
David Mech hat tatsächlich betont, dass Wölfe nicht überall Schlüsselarten seien – aber das schließt kontextuelle Schlüsselrolle wie in Yellowstone nicht aus. Auch Mech hat später anerkannt, dass Wölfe in bestimmten Ökosystemen wichtige regulatorische Funktionen einnehmen können.
📚 Quelle: Mech, D. L. (2012). Is science in danger of sanctifying the wolf? Biological Conservation, 150(1), 143–149.
✅ Fazit: Mech warnt vor Überhöhung, leugnet aber nicht grundsätzlich die Schlüsselrolle des Wolfs in bestimmten Kontexten.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Wölfe verändern keine Flüsse.“
Wissenschaftlicher Widerspruch:
Die These „Wolves change rivers“ ist ein vereinfachendes Narrativ, das metaphorisch verwendet wurde. Aber: Die Wiederansiedlung von Wölfen führte zu indirekten geomorphologischen Veränderungen.
🔬 Mechanismus:
Weniger Beweidung durch Elche an Flussufern.
Wiederbewaldung stabilisiert Ufer, fördert Bodenbildung.
Mehr Biber durch verbesserte Vegetation – Biber verändern Flussdynamik.
📚 Quelle: Ripple, W. J., & Beschta, R. L. (2006). Linking a cougar decline, trophic cascade, and catastrophic regime shift in Zion National Park. Biological Conservation, 133(4), 397–408.
✅ Fazit: Wölfe verändern Flüsse nicht direkt, aber indirekt über trophische Kaskaden. Das ist wissenschaftlich nachvollziehbar und kein Mythos.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Begeisterung für Wölfe führt zu einem eindimensionalen Naturverständnis.“
Einordnung:
Diese Warnung ist grundsätzlich berechtigt. Wissenschaftliche Objektivität ist essenziell. Jedoch ist es nicht weniger problematisch, aus Vorsicht vor Idealisierung den Einfluss von Wölfen zu marginalisieren.
➕ Wissenschaft lebt vom Diskurs – aber auch von der Anerkennung empirisch belegter Zusammenhänge.
Behauptung im Text | Wissenschaftliche Gegenposition |
Wölfe verändern keine Landschaft | Falsch: trophische Kaskaden durch Wölfe im Yellowstone sind vielfach belegt |
Wölfe sind keine Schlüsselarten | Verkürzt: Sie können in bestimmten Ökosystemen sehr wohl Schlüsselarten sein |
Mech & Boitani lehnen Wolf als Schlüsselart ab | Verkürzt zitiert; kontextuelle Rolle wird anerkannt |
Flüsse verändern sich nicht durch Wölfe | Vereinfachung: indirekt über Nahrungsketten und Vegetation ja |
Kritik an romantischer Sichtweise | Berechtigt – aber darf nicht zur Leugnung ökologischer Fakten führen |
Der Text suggeriert, der Wolf sei ökologisch unbedeutend – das widerspricht dem Stand der Forschung. Die Rückkehr des Wolfs im Yellowstone ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Apex-Prädator tiefgreifende, systemische Veränderungen anstoßen kann. Die Beschreibung als „Schlüsselart“ ist wissenschaftlich begründet, zumindest kontextabhängig.