Schlusskapitel - Marcel Züger "Mensch Wolf"

Der Text von Marcel Züger (aus dem Schlusskapitel seines Buches) ist eine emotional grundierte Liebeserklärung an die Alpen – und ein ideologisch gefärbter Appell gegen die Wiederansiedlung des Wolfs in alpenländische Kulturlandschaften. In Verbindung mit dem zuvor analysierten Text, der den Wolfsschutz als „demolierenden“ Einfluss auf den Naturschutz darstellt, ergibt sich ein geschlossenes Argumentationssystem, das wissenschaftlich kritisch zu hinterfragen ist.

🔍 1. Analyse im Kontext des Schlusskapitels

Romantisierung der Kulturlandschaft

Marcel Züger beschreibt die Alpwirtschaft als „geistige Bastion gegen die Moderne“ und als eine Art heilende Gegenwelt. Die Kulturlandschaft wird dabei verklärt – sie erscheint nicht als menschgemachte, sondern als fast naturähnliche, schützenswerte Entität.

➡️ Kritik: Diese Sichtweise blendet aus, dass Kulturlandschaften keine ursprüngliche Natur sind, sondern durch jahrhundertelange menschliche Nutzung entstanden. Viele der dort lebenden Arten sind kulturfolgend – aber nicht per se „natürlich“.

🔬 Wissenschaftlich belegt: Viele Arten, die heute als „kulturlandschaftsgebunden“ gelten, profitieren nur bedingt von der extensiven Nutzung, während ursprüngliche Arten durch genau diese Nutzung verdrängt wurden (vgl. Plieninger et al., 2006; Fischer et al., 2012).

Mythologisierung des Wolfs

Der Wolf wird von Marcel Züger als „Marlboro-Mann“ der heutigen Zeit stilisiert – ein Sinnbild moderner Umweltromantik. Gleichzeitig wird er als „falscher Hoffnungsträger“ entlarvt, der mehr schade als nütze.

➡️ Kritik: Die pauschale Darstellung des Wolfs als schädlich für Naturschutz ist faktisch nicht haltbar. Zahlreiche Studien zeigen, dass Großraubtiere wie der Wolf eine wichtige Rolle im Ökosystem spielen, z. B. durch:

  • Regulierung von Wildbeständen (Trophic Cascades),

  • Förderung der Biodiversität durch indirekte Effekte auf Vegetation und Kleinräuber.

🔬 Belegt durch Forschung:

  • Beschl, Ripple & Beschta (2001): Wiederansiedlung von Wölfen im Yellowstone hat das Ökosystem nachhaltig positiv beeinflusst (z. B. Rückkehr von Bibern und Singvögeln).

  • Chapron et al. (2014): Der Wolf ist kein Bedrohungsfaktor für Artenschutz, sondern eine komplementäre Schutzstrategie, wenn Koexistenzstrategien angewandt werden.

Instrumentalisierung von Aldo Leopold

Marcel Züger beruft sich auf Leopold als moralische Autorität, deutet dessen „Land-Ethik“ aber um: Der Wolf erscheine als moderne Karikatur Leopold’scher Ideale, letztlich nutzlos für den Naturschutz.

➡️ Kritik: Das ist ein selektives und verkürztes Verständnis von Leopolds Ethik. In Wahrheit war Leopold einer der ersten prominenten Befürworter der Wiederansiedlung von Raubtieren.

🗣️ Zitat von Leopold selbst (aus „Thinking Like a Mountain“, 1949): „Only the mountain has lived long enough to listen objectively to the howl of a wolf.“

➡️ Er erkannte die ökologische Notwendigkeit von Raubtieren für funktionierende Ökosysteme – gerade als Korrektiv menschlicher Übernutzung.

🧠 2. Wissenschaftlich begründete Gegenargumente zum Grundtenor

Mythos: „Der Wolf zerstört Biodiversität“

  • Falsch. Studien zeigen, dass Wolfspräsenz z. B. Reh- und Hirschpopulationen reguliert, was übermäßigen Verbiss verhindert und zur Wiederherstellung strukturreicher Wälder beiträgt (Ripple et al., 2014).

  • Das angeblich „schützende“ Offenhalten von Weiden durch Nutztiere ist nicht per se positiv für alle Arten – viele Arten profitieren erst durch die Regeneration natürlicher Sukzession.

Mythos: „Herdenschutz funktioniert nicht“

  • Falsch. In Ländern mit jahrzehntelanger Erfahrung (Frankreich, Italien, Slowakei) wurden durch effektive Herdenschutzmaßnahmen Risse deutlich reduziert.

  • In der Schweiz zeigen z. B. die Evaluierungen von AGRIDEA (2022), dass korrekt umgesetzte Maßnahmen Herdenschäden drastisch senken können.

Mythos: „Kulturlandschaft > Wildnis“

  • Vereinfachend. Die Bewahrung von Kulturlandschaften kann zwar regional sinnvoll sein, aber nicht als pauschaler Maßstab für den Naturschutz gelten.

  • Viele endemische und gefährdete Arten sind auf Wildnis oder naturnahe Sukzession angewiesen, nicht auf anthropogen gepflegte Flächen (Essl et al., 2020).

📚 Wissenschaftliche Quellen

  1. Ripple, W. J., & Beschta, R. L. (2001). Trophic cascades in Yellowstone: The first 15 years after wolf reintroduction. Biological Conservation, 145(1), 205-213.

  2. Chapron, G., et al. (2014). Recovery of large carnivores in Europe’s modern human-dominated landscapes. Science, 346(6216), 1517–1519.

  3. Fischer, J., et al. (2012). Conservation: limits of land sparing. Science, 334(6061), 593.

  4. Plieninger, T., et al. (2006). Sustainability science: bridging the gap between natural and social sciences. Landscape and Urban Planning, 75(3-4), 183–194.

  5. Essl, F., et al. (2020).Drivers of biodiversity change in the Anthropocene. Nature Ecology & Evolution, 4(5), 612–619.

  6. AGRIDEA (2022).Herdenschutz in der Schweiz – Wirkungsanalyse 2019–2021.

  7. Leopold, A. (1949).A Sand County Almanac. Oxford University Press.

📌 Fazit

Marcel Zügers Texte verbinden persönliche Erfahrung, emotional aufgeladene Narrative und selektive Argumentation zu einer ideologisch gefärbten Gegenerzählung zum Wolfsschutz. Dabei werden wichtige ökologische, ethische und wissenschaftliche Erkenntnisse verzerrt oder ignoriert.

Ein integrativer Naturschutz darf nicht entweder Wildnis oder Kulturlandschaft fördern – sondern muss beides ermöglichen: Artenvielfalt durch natürliche Prozesse und durch nachhaltige Bewirtschaftung, in Koexistenz mit großen Beutegreifern wie dem Wolf.