Der Text „Bedrohtes Paradies – Der Wald kommt“ von Marcel Züger vertritt die These, dass viele artenreiche Kulturlandschaften in der Schweiz nur durch kontinuierliche landwirtschaftliche Nutzung – insbesondere Beweidung und Mahd – erhalten bleiben können. Ohne diese Eingriffe käme es zur „Verwaldung“, was letztlich den Verlust gefährdeter Arten und Biodiversität zur Folge habe. Der Text sieht die Landwirtschaft – besonders im Berggebiet – als zentrale Instanz zur Erhaltung der Biodiversität. Diese Sichtweise ist jedoch einseitig, teilweise widersprüchlich, und lässt zentrale ökologische, klimapolitische und biodiversitätswissenschaftliche Erkenntnisse außen vor.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Wenn Alpweiden und Magerwiesen verbuschen, wird die lokale Artenvielfalt nicht unbedingt geringer. Aber gefährdete Arten werden durch weniger stark gefährdete abgelöst. […] Der Reichtum des Landschaftsmosaiks geht jedoch verloren, und die Artenvielfalt als Ganzes nimmt ab.“
Diese Aussage ist verkürzt und wissenschaftlich nicht haltbar in ihrer Pauschalität. Die Biodiversität in Wäldern ist oft nicht geringer, sondern nur anders zusammengesetzt als in Offenland-Habitaten. Mitteleuropäische Buchenwälder etwa gehören zu den artenreichsten Lebensräumen Europas (Sabatini et al., 2020). Arten wie Totholzbewohner, Pilze, Moose oder Fledermäuse profitieren massiv von natürlicher Waldentwicklung.
🌱 Quellen:
Sabatini, F.M. et al. (2020). Where are Europe’s last primary forests?. Diversity and Distributions, 26(11), 1408–1424.
Bauhus, J. et al. (2016). Wälder mit natürlicher Entwicklung – Bedeutung, Ziele, Stand und Perspektiven in Deutschland. BfN Skripten 418.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Alle anderen Gebiete bedürfen der Pflege durch Mahd oder Beweidung.“
Die These, dass alle Landschaften ohne Pflege ökologisch entwertet würden, verkennt natürliche Sukzessionsprozesse. Die Entstehung von Wald durch Aufgabe der Nutzung ist ein natürlicher Regenerationsprozess, nicht per se ein Verlust.
Vielmehr entstehen durch passive Renaturierung neue, wertvolle Lebensräume. Dies belegt u.a. die Rewilding-Forschung, die zeigt, dass sich Ökosysteme nach Aufgabe der Nutzung oft positiv für Wildtiere und Biodiversität entwickeln.
🦌 Quellen:
Pereira, H. M., & Navarro, L. M. (2015). Rewilding European Landscapes. Springer.
Ceaușu, S. et al. (2015). Potential for rewilding the European landscape. Conservation Biology, 29(4), 1291–1301.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Die Verbuschung bleibt nicht stehen. Aus den halboffenen Flächen wird Wald.“
Die implizite Warnung vor „zunehmendem Wald“ verkennt dessen ökologische Funktion. Wälder haben im Kontext der Klimakrise eine zentrale Rolle: Sie speichern CO₂, puffern Temperaturen, schützen Böden vor Erosion und fördern Resilienz. Gerade Hochlagenwälder sind wichtige Rückzugsräume für Arten im Klimawandel.
🌍 Quellen:
IPCC (2022). Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II.
Thom, D. et al. (2017). The climate sensitivity of carbon, timber, and species richness covaries with forest age in boreal–temperate forests. Global Change Biology, 23(12), 5185–5197.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Für über 1000 Arten hat das Berggebiet eine hohe Verantwortung.“
Diese Aussage ist nicht falsch, aber missverständlich: Viele der „typischen Arten“ extensiver Kulturlandschaften sind nur deshalb gefährdet, weil sie durch Industrialisierung der Landwirtschaft in den Tieflagen keinen Lebensraum mehr finden. Die Lösung ist nicht, künstlich offene Landschaften überall zu erhalten, sondern die Tieflagen wieder naturnäher und biodiversitätsfreundlicher zu gestalten.
🌾 Quellen:
Pe’er, G. et al. (2014). EU agricultural reform fails on biodiversity. Science, 344(6188), 1090–1092.
Tscharntke, T. et al. (2005). Landscape perspectives on agricultural intensification and biodiversity – ecosystem service management. Ecology Letters, 8(8), 857–874.
Behauptung im Text von Marcel Züger:
„Ohne Weidetiere braucht es keine Wiesen. […] Der Wolf […] hat Einfluss auf die Weidehaltung.“
Der Einfluss des Wolfs auf die Weidewirtschaft ist politisch umstritten, aber ökologisch marginal, sofern Herdenschutz betrieben wird. Studien zeigen, dass durch wirksamen Herdenschutz (Hirten, Zäune, Herdenschutzhunde) Koexistenz möglich ist, ohne Weidesysteme aufzugeben.
🐺 Quellen:
Reinhardt, I. et al. (2012). Management von Konflikten zwischen Menschen und großen Beutegreifern. BfN-Skripten 322.
Linnell, J.D.C. et al. (2021). Guidelines for Population Level Management Plans for Large Carnivores. European Commission.
Der Text „Bedrohtes Paradies“ romantisiert eine agrarisch geprägte Landschaft und verknüpft Biodiversitätserhalt fast ausschließlich mit Landwirtschaft. Dabei werden zentrale wissenschaftliche Erkenntnisse zu natürlicher Sukzession, Waldökosystemen, Klimaschutz und Rewilding ausgeblendet. Die Vorstellung, dass nur bewirtschaftete Landschaften artenreich seien, ist fachlich nicht haltbar.
Ein modernes Naturschutzverständnis erkennt den Wert beider Landschaftsformen an – Kulturland und Wildnis – und plädiert für differenzierte Strategien, anstatt die Verwaldung als pauschales Bedrohungsszenario darzustellen.