Wald mit Wild Teil 1 - Marcel Züger Mensch Wolf

Der vorliegende Text von Marcel Züger vertritt eine konservativ-ingenieurhafte Sicht auf Wald und Wild im Alpenraum und argumentiert stark gegen eine problemorientierte Naturschutzpolitik. Vieles ist plakativ zugespitzt und wissenschaftlich selektiv dargestellt. Im Folgenden wird dieser Darstellung widersprochen – differenziert, faktenbasiert und mit wissenschaftlicher Fundierung.

🧨 These 1 von Marcel Züger: „Es gibt im Wald kein Naturschutzproblem“

Widerspruch:

Diese Aussage ist sachlich falsch und ignoriert aktuelle Forschung zu Biodiversitätsverlust, Habitatfragmentierung und dem schlechten Erhaltungszustand vieler Waldarten.

Faktenlage:

  • Der Zustand der Wälder in Mitteleuropa mag in Hinblick auf die Fläche stabil sein, aber der ökologische Zustand ist vielfach kritisch. In Österreich z. B. befinden sich laut EU-Bericht zum Zustand der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinien nur 11 % der Waldlebensräume in „gutem“ Zustand (BMLRT, 2019).

  • Alt- und Totholz nehmen nicht flächendeckend zu. Vielmehr fehlen strukturreiche Wälder mit viel stehendem Totholz und Mikrohabitaten, was gerade für Urwaldreliktarten wie die Rosalia alpina überlebenswichtig wäre (Winter et al., 2015).

Quellen:

  • BMLRT (2019): Bericht zur FFH-Richtlinie 2019. Österreichisches Bundesministerium.

  • Winter, S. et al. (2015): "Forest management and forest biodiversity in Europe: Current practices and knowledge gaps." Biodiversity and Conservation.

🌲 These 2 von Marcel Züger: „Im Bergwald gibt es kein ernstes Naturschutzproblem – die Wälder werden dichter und vielfältiger“

Widerspruch:

Die „Dichte“ der Wälder ist kein geeigneter Biodiversitätsindikator. Vielmehr verlieren viele Arten Lebensräume, weil lichte, dynamische Waldbiotope zunehmend verschwinden.

Faktenlage:

  • Lichtwaldarten und Arten offener Waldstrukturen (wie das Auerhuhn oder zahlreiche Orchideen und Schmetterlinge) sind stark rückläufig, da Sukzession ohne gezielte Pflege oder Störung zur Schließung führt (Bollmann & Graf, 2013).

  • Klimawandel und Eutrophierung führen zudem zu einer Verarmung auf Standortebene (Verheggen et al., 2022).

Quellen:

  • Bollmann, K. & Graf, R. F. (2013): "Forest structure and habitat suitability for capercaillie." Journal of Ornithology.

  • Verheggen, F. et al. (2022): "European temperate forests under pressure: Biodiversity loss, climate risks and management challenges." Global Change Biology.

🦌 These 3 von Marcel Züger: „Hirsch, Gämse und Reh geht es hervorragend – Wild kann man auf Populationsebene steuern“

Widerspruch:

Diese Sicht vernachlässigt die lokal überhöhten Wilddichten, die zu massiven Problemen bei der Waldverjüngung und Artenzusammensetzung führen.

Faktenlage:

  • Die Konzentration von Wild in waldnahen Schongebieten oder Schutzwäldern hat oft schwerwiegende Folgen für die Verjüngung standorttypischer Baumarten, insbesondere Tanne, Eiche oder Bergahorn (Ammer et al., 2010).

  • Schalenwilddichten über dem ökologischen Tragevermögen führen zu übermäßigen Verbissschäden, einem Verlust an struktureller Diversität und zur Homogenisierung von Waldgesellschaften (Reimoser & Gossow, 1996).

Quellen:

  • Ammer, C. et al. (2010): "Zur Notwendigkeit einer waldverträglichen Schalenwilddichte." AFZ-Der Wald.

  • Reimoser, F. & Gossow, H. (1996): "Impact of ungulates on forest vegetation and its dependence on the silvicultural system." Forest Ecology and Management.

🐺 These 4 von Marcel Züger: „Der Wolf ist keine Schlüsselart – Effekte überbewertet“

Widerspruch:

Der Text verharmlost die Rolle von großen Beutegreifern wie dem Wolf und unterminiert Erkenntnisse über trophische Kaskaden.

Faktenlage:

  • Wolfsrückkehr führt zu messbaren Veränderungen im Verhalten von Schalenwild (z. B. Änderung der Äsungszeiten und -orte), was indirekte ökologische Effekte auf die Waldverjüngung auslöst (Kuijper et al., 2016).

  • Die Yellowstone-Studie ist keine singuläre „Romantikgeschichte“, sondern gut dokumentierter Bestandteil der ökologischen Theorie über trophische Kaskaden (Ripple & Beschta, 2012).

Quellen:

  • Ripple, W.J. & Beschta, R.L. (2012): "Trophic cascades in Yellowstone: The first 15 years after wolf reintroduction." Biological Conservation.

  • Kuijper, D. P. J. et al. (2016): "Landscape of fear in Europe: Wolves affect spatial patterns of ungulate browsing." Ecography.

📉 These 5 von Marcel Züger: „Verbiss ist kein Problem, sondern Teil der Dynamik“

Widerspruch:

Verallgemeinernde Aussagen wie diese ignorieren wissenschaftlich belegte regionale und artspezifische Verbissprobleme.

Faktenlage:

  • Studien zeigen, dass dauerhaft überhöhte Wilddichten die Naturverjüngung auf großen Flächen verunmöglichen und insbesondere klimafitte Baumarten (z. B. Tanne, Eiche, Edellaubholz) massiv benachteiligen (Gill & Beardall, 2001).

  • Gerade in Zeiten des Klimawandels ist eine diverse Naturverjüngung essenziell für stabile Wälder. Wildmanagement muss sich daran orientieren.

Quellen:

  • Gill, R. & Beardall, V. (2001): "The impact of deer on woodlands: The effects of browsing and seed dispersal on vegetation structure and composition." Forestry.

  • Ammer, C. (2017): "Wildschäden und Waldumbau – Zielkonflikte oder lösbare Herausforderung?" AFZ-Der Wald.

🔄 These 6 von Marcel Züger: „Natur kann Bestände selbst regulieren – wir müssen nur aushalten“

Widerspruch:

Das Argument für „brutale natürliche Regulation“ (z. B. Seuchen, Hungertod) ignoriert ethische, ökologische und gesellschaftliche Aspekte eines verantwortungsvollen Wildtiermanagements.

Faktenlage:

  • Populationskollaps durch Wintertod oder Krankheiten ist weder ethisch tragbar noch ökologisch sinnvoll, wenn durch professionelles Management Alternativen bestehen (Putman et al., 2011).

  • Jagd hat nicht nur eine regulierende Funktion, sondern auch eine soziale und wirtschaftliche Relevanz, v. a. in Kulturlandschaften ohne Großraubtiere.

Quellen:

  • Putman, R. et al. (2011): "Ungulate management in Europe: Problems and practices." Cambridge University Press.

Fazit:

Der Text ist rhetorisch geschickt, aber wissenschaftlich einseitig. Er unterschätzt Naturschutzprobleme, verharmlost Wildschäden und spielt natürliche Prozesse gegen aktive Bewirtschaftung aus. Eine moderne Forst- und Naturschutzstrategie muss integrativ sein, biodiversitätssichernd, klimaanpassungsfähig und wissenschaftsbasiert. Die romantisierte Vorstellung eines „pulsierenden Flickenteppichs“ mag schön klingen – sie ersetzt keine faktenbasierte Steuerung und keinen gezielten Artenschutz.

📚 Quelle:

  • Ammer, C. (2019). Zur Bedeutung von Wildverbiss als Steuerungsfaktor der Waldverjüngung. AFZ-Der Wald, 6, 10–14.

  • Gill, R. M. A., & Beardall, V. (2001). The impact of deer on woodlands: The effects of browsing and seed dispersal on vegetation structure and composition. Forestry, 74(3), 209–218.

B) Romantisierung des Plenterwalds und Missachtung moderner ökologischer Erkenntnisse

  • Plenterwälder haben Vorteile (hohe Strukturdiversität), aber sie sind arbeitsintensiv, teuer und nicht überall ökologisch oder ökonomisch sinnvoll.

  • Die Behauptung, dass Wildtiere eine notwendige Selektion übernehmen, ist forstlich überholt. Hohe Wildbestände gefährden nicht nur die Baumverjüngung, sondern auch artenreiche Krautschichten und seltene Arten.

📚 Quelle:

  • Reimoser, F. (2003). Steering the impacts of ungulates on temperate forests. Journal for Nature Conservation, 10(4), 243–252.

C) „Verjüngungsfeindliche Streuauflagen“: pauschal und ökologisch undifferenziert

  • Das Problem ist nicht das Laub selbst, sondern dessen Interaktion mit Boden, Lichtverfügbarkeit und Konkurrenzdruck. In Urwäldern sorgen mikrotopographische Vielfalt und Totholz für erfolgreiche Verjüngung.

  • Aussagen wie „Altbäume verhindern Verjüngung“ sind einseitig – viele Arten sind auf Altbaumbestände angewiesen (z. B. für Habitatbäume, Mykorrhizapartner, Samenquellen).

📚 Quelle:

  • Bauhus, J., Puettmann, K., & Messier, C. (2009). Silviculture for old-growth attributes. Forest Ecology and Management, 258(4), 525–537.

III. FAZIT UND EINORDNUNG DES GESAMTTEXTES

Positiv:

  • Gute Beschreibung der forstlichen Praxis, insbesondere Unterschiede zwischen Plenter- und Altersklassenwald.

  • Anerkennung der Notwendigkeit einer angepassten Waldpflege.

Kritik:

  • Ideologisch eingefärbt, vor allem im Bezug auf die Rolle von Wildtieren.

  • Vereinfachte biologische Konzepte (z. B. „jeder Baum braucht einen Nachfolger“, „Selektion durch Wild ist notwendig“).

  • Problematische Natur-Romantik, z. B. bei der Darstellung von Geophyten oder Rohhumus.

SCHLUSSFOLGERUNG

Der Text vernachlässigt:

  1. die Verantwortung des Konsums differenziert zu betrachten, und

  2. die ökologischen Grundlagen der Waldentwicklung in ihrer Vielschichtigkeit korrekt darzustellen.

Empfohlene weiterführende Literatur:

  • Rieley, J. O., & Page, S. E. (Eds.). (2005). Tropical peatlands. (Über den Einfluss von Nutzung tropischer Wälder)

  • Peterken, G. F. (1996). Natural woodland: ecology and conservation in northern temperate regions.

  • Ellenberg, H. (1988). Vegetation Ecology of Central Europe.