Der vorliegende Text von Marcel Züger präsentiert die Alpwirtschaft als Paradebeispiel für „gelebte Nachhaltigkeit“, in dem Mensch, Tier und Natur harmonisch profitieren. Diese Sichtweise ist jedoch einseitig, romantisierend und blendet wesentliche ökologische, ökonomische und wissenschaftlich belegte Problemfelder aus. Im Folgenden wird der Text differenziert analysiert, zentrale Aussagen widerlegt und mit wissenschaftlich fundierten Quellen untermauert.
These im Text von Marcel Züger:
„Ein wilder, ungenutzter Alpenraum wäre bedeutend artenärmer als die bewirtschaftete Kulturlandschaft.“
Widerlegung:
Diese Aussage ignoriert die ökologische Realität weitgehend. Zwar sind einige Arten an die offene Kulturlandschaft angepasst, aber naturnahe, unbeeinflusste Lebensräume fördern eine größere Vielfalt an spezialisierten und bedrohten Arten, insbesondere solcher, die durch menschliche Nutzung verdrängt wurden.
Wissenschaftliche Fakten:
Urwälder und naturnahe Wälder (etwa subalpine Bergmischwälder) weisen eine höhere Biodiversität auf, insbesondere bei Insekten, Pilzen und totholzbewohnenden Arten, als beweidete Flächen (Bauhus et al., 2021).
Die Ausbreitung von Gehölzen nach Aufgabe der Weideflächen fördert Waldarten, darunter viele gefährdete Vogelarten wie der Dreizehenspecht oder das Auerhuhn (Laiolo et al., 2004).
These im Text von Marcel Züger:
„Wenn es sie nicht schon gäbe, man müsste sie erfinden. [...] Nachhaltigkeit in Reinkultur.“
Widerlegung:
Diese Behauptung idealisiert die Alpwirtschaft. Tatsächlich ist ihre Umweltbilanz ambivalent:
Tritt- und Erosionsschäden, Nährstoffeintrag durch Dung und Urin, sowie die Fragmentierung sensibler Habitate sind dokumentierte Nebeneffekte extensiver Beweidung in sensiblen Höhenlagen (Tasser & Tappeiner, 2002).
Der Klimawandel verschärft diese Belastung: Längere Vegetationszeiten, Rückzug des Permafrosts und extremere Wetterereignisse machen viele Alpwirtschaftsformen zunehmend ökologisch und ökonomisch fragwürdig (Beniston et al., 2018).
Indirekte These im Text von Marcel Züger:
„Welche Auswirkungen die Wiederkunft der Wölfe auf die Artenvielfalt hat, wird im Folgenden dargelegt.“
Widerlegung:
Die Wiederkehr großer Beutegreifer wie des Wolfs ist positiv für die Biodiversität, insbesondere auf trophischer Ebene. Durch seine Rolle als Apex-Prädator kann der Wolf:
Überpopulation von Huftieren regulieren (z. B. Rehe, Hirsche), was zu einem verbesserten Aufwuchs der Vegetation und einer erhöhten Artenvielfalt im Unterwuchs führt (Ripple et al., 2014).
Stoffkreisläufe beeinflussen, indem Kadaver Ressourcen für Aasfresser und Bodenorganismen bereitstellen (Selva et al., 2005).
These im Text von Marcel Züger:
„Die Tiere leben weitgehend frei, ähnlich wie Wildtiere.“
Widerlegung:
Diese Analogie ist ökologisch irreführend. Nutztiere unterscheiden sich signifikant von Wildtieren:
Domestizierte Tiere verändern die Vegetationsstruktur stark, da sie bestimmte Pflanzen selektiv fressen und andere verschmähen (Pykälä, 2000).
Sie erzeugen Übernutzung lokal begrenzter Flächen, was zur Bodenverdichtung, Nährstoffanreicherung und Verlust seltener Pflanzenarten führt.
These im Text von Marcel Züger:
„Der Mensch lebt und nutzt, die Natur profitiert. Win-Win-Win.“
Widerlegung:
Diese Behauptung ist eine typische Narrative der anthropozentrischen Umweltethik, aber wissenschaftlich nicht haltbar. Es gibt klare Trade-offs zwischen landwirtschaftlicher Nutzung und Biodiversität:
Intensivierung (auch extensiver Weideformen) senkt oft die Artenvielfalt gegenüber natürlichen Sukzessionsflächen (Fischer et al., 2010).
Der „Erhalt“ von Arten in Kulturlandschaften basiert häufig auf ständiger menschlicher Störung, was langfristig keine echte Nachhaltigkeit darstellt.
These im Text von Marcel Züger:
„Die Alpwirtschaft gehört zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.“
Widerlegung:
Diese Anerkennung bezieht sich auf die kulturelle Bedeutung, nicht auf ökologische Nachhaltigkeit. Es ist keine Aussage über Umweltfreundlichkeit oder Artenschutz. UNESCO-Kulturerbestatus ist ein Schutz kultureller Praktiken – etwa auch traditioneller Fischerei, Bergbau oder nomadischer Viehzucht – und nicht zwingend ein Prädikat für ökologische Verträglichkeit.
Die Alpwirtschaft hat zweifellos kulturellen und landschaftsgestaltenden Wert. Aber die im Text vertretene Sichtweise ist ideologisch verklärt und wissenschaftlich unhaltbar, wenn sie suggeriert, dass diese Wirtschaftsweise automatisch mit Artenvielfalt, Tierwohl und Nachhaltigkeit gleichzusetzen sei. Tatsächlich ist der Alpenraum ohne menschliche Nutzung nicht ärmer, sondern anders artenreich – oft sogar wertvoller für bedrohte Arten.
Ripple, W. J., et al. (2014). Status and ecological effects of the world’s largest carnivores. Science, 343(6167), 1241484. https://doi.org/10.1126/science.1241484
Tasser, E., & Tappeiner, U. (2002). Impact of land use changes on mountain vegetation. Agriculture, Ecosystems & Environment, 99(1-3), 87–99.
Pykälä, J. (2000). Mitigating human effects on European biodiversity through traditional animal husbandry. Conservation Biology, 14(3), 705–712.
Fischer, J., et al. (2010). Conserving landscape biodiversity: ecological and economic considerations. Biological Conservation, 143(6), 1417–1429.
Selva, N., et al. (2005). Why scavengers matter. Oecologia, 145(4), 626–636.